Der Fluss


Es war früh am Morgen, als Liora den schmalen Pfad hinunter zum Fluss nahm. Nebel hing über dem Wasser wie ein ungesagtes Wort, das zwischen Himmel und Erde schwebte. Sie war zum ersten Mal seit Jahren wieder hier – an dem Ort, an dem einst ihre Großmutter gelebt hatte.

Der Wald schien sie zu erkennen. Die Blätter raschelten leise, als flüsterten sie Erinnerungen. Liora blieb stehen, schloss die Augen und lauschte. Da war nichts – und doch alles. Ein stilles Summen in der Luft, als würde die Natur atmen.

Am Ufer hockte sie sich hin. Der Fluss floss ruhig, aber kraftvoll. Ihre Großmutter hatte gesagt, dass der Fluss eine Seele habe. „Wenn du still bist, spricht er mit dir“, hatte sie gemurmelt, damals, als Liora noch zu jung war, um zu verstehen.

Heute wollte sie zuhören.

Sie streckte eine Hand ins Wasser. Es war kühl und lebendig. Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Kein Geräusch – nur ein inneres Vibrieren, ein Hauch, wie ein Gedanke, der nicht aus ihr kam.

„Du suchst etwas, das du nie verloren hast.“

Liora erstarrte. Die Worte klangen nicht in ihren Ohren, sondern in ihrem Inneren.

Sie sah sich um. Niemand war da – nur Bäume, Wasser, Nebel. Und doch war etwas präsent. Kein Schrecken, eher eine wache Stille.

„Wer bist du?“, flüsterte sie.

„Ich bin, was bleibt, wenn du alles loslässt.“

Tränen stiegen in ihre Augen, ohne dass sie wusste, warum. Vielleicht, weil sie zum ersten Mal seit Langem nichts erklären musste. Keine Rolle spielen. Keine Richtung suchen.

Nur da sein.

Der Fluss floss weiter, unbeeindruckt und weise. Und Liora verstand: Die Antworten waren nie im Außen gewesen. Sie waren hier – im Wasser, in der Erde, im Schweigen zwischen den Dingen.

Als sie aufstand, fühlte sie sich leichter. Nicht, weil sich etwas verändert hatte, sondern weil sie aufgehört hatte, dagegen anzukämpfen.

Der Wald schwieg, doch sein Schweigen war voller Sinn.


Ein Kommentar zu “Der Fluss

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